Türme

Gedicht von Gertrud Kolmar

Lyrik | Prosa

Gertrud Kolmar

Türme

Gedicht aus der Sammlung Welten 1937
Orginal (Typoskript),
Übersetzungen: Hebräisch Inbal Rosenberg,
Russisch Katsiaryna Shuliakouskaya und Leonid Khayet, Polnisch Iwona Mickiewicz
Hrsg., Zeichnungen und Collagen: Iwona Mickiewicz

Edition Abakus Berlin 2021
ISBN 978-3-9821082-6-1


Am Strande nördlichen Meeres,
Wo schwarzer grausamer Sturm Schwärme gell kreischender Möwen peitscht,
Wo an rissige Klippen geschleuderte Woge eisgrün klirrend zerbricht,
Zerschellt, zerspritzt,
Starrt der Turm.
Hart, finster, lastend, stumm in grauer Öde.
Erstorben.
Ohne Mund.
Kein Tor, keine Pforte: verschlossen.
Aus blicklosen Fenstern geistert in Nebeln düsterrot glimmendes Licht,
Kolkt ein Rabe krächzende Prophezeihungen,
Schwimmt Schneeeule lautlos,flockenrieselnd in das
kristallen singende Schweigen der Nacht. –
Irgendwo fern klagt ein Schiff im Eise …

Irgendwo. (…)



So will ich auch unter mein Schicksal treten, mag es hoch wie ein Turm,
mag es schwarz und lastend wie eine Wolke sein.
Gertrud Kolmar, aus dem Brief an ihre Schwester Hilde Wenzel, 15. 12. 1942